Territorium Polis

Selinunt. Ein wegweisender Beitrag zur Chora-Forschung in Sizilien

Im November 2024 erschien unter dem Titel „Eine Chora für die Polis“ eine Monografie aus der Feder von Christian Leeck, Althistoriker aus Wuppertal.

In seiner Dissertation untersucht Christian Leeck die Chora der westsizilianischen Polis Selinunt mit besonderem Fokus auf deren östlichen Teil. Die Chora, das landwirtschaftlich und wirtschaftlich genutzte Umland einer griechischen Stadt, wird in der traditionellen Forschung oft als ein dem Stadtzentrum untergeordnetes Gebiet betrachtet. Leecks Ansatz ist jedoch interdisziplinär und geht über den klassischen philologisch-historischen Zugang hinaus. Seine Studie ordnet sich bewusst den Altertumswissenschaften zu und betrachtet die Chora als eigenständigen Untersuchungsgegenstand.

Forschungsziel und Methodik

historische landeskunde

Das zentrale Erkenntnisinteresse der Arbeit besteht darin, die Verbindung zwischen der Chora und der Stadt Selinunt diachron zu analysieren. Dabei wird untersucht, wie sich die Siedlungs- und Wirtschaftsstrukturen im östlichen Teil der Chora entwickelten und wie die Beziehungen zur Polis sowie zu benachbarten Akteuren – insbesondere zu Akragas und den indigenen Sikanern – gestaltet waren. Leeck orientiert sich an einem Perspektivwechsel innerhalb der Forschung, der unter anderem von Robin Osborne angeregt wurde. Dieser neue Ansatz soll die Dominanz der politischen Geschichte verringern und stattdessen ökonomische, soziale und demografische Aspekte stärker in den Fokus rücken.

Methodisch baut die Studie auf einem breiten Spektrum an Quellen auf, das sowohl antike Texte als auch archäologische Funde umfasst. Neben zwei papyrologischen Quellen – einem anonymen Werk über Sizilien und einem Auszug aus Kallimachos' Aitia – wertet Leeck Inschriften, Münzen und umfangreiches archäologisches Material aus. Die Studie verfolgt damit einen empirisch fundierten, interdisziplinären Ansatz, der es ermöglicht, die historischen Entwicklungen der Chora in ein differenziertes Gesamtbild einzufügen.

Die Dissertation gliedert sich in vier Hauptkapitel: Die Einleitung legt den Forschungsrahmen dar, beschreibt den Untersuchungsraum und erläutert die methodischen Grundlagen der Arbeit. Der östliche Teil der Chora von Selinunt wird als exemplarischer Fall ausgewählt, da er sich durch natürliche Barrieren von der unmittelbaren Umgebung der Polis abgrenzt. Dieses Gebiet weist eine besondere historische Dynamik auf, da es sich um eine Grenzregion handelt – sowohl in Bezug auf den mächtigen Nachbarn Akragas als auch auf die indigenen Sikaner des Hinterlandes.

Das zweite Kapitel zeichnet die historische Entwicklung der Region Südwest-Sizilien nach und beschreibt deren naturräumliche Gegebenheiten. Dabei werden die verschiedenen Siedlungsphasen und politischen Veränderungen in der Region dargestellt. Diese fundierte Darstellung bildet die Grundlage für die anschließende thematische Analyse.

Im dritten und umfangreichsten Kapitel analysiert Leeck die territorialen Entwicklungen der Chora, ihre Bevölkerung und ihre Infrastruktur. Die Expansion der Chora verlief entlang natürlicher Gegebenheiten wie Flüssen und strategischen Höhenlagen. Besondere Aufmerksamkeit wird der Integration indigener Siedlungen in das griechische Siedlungssystem gewidmet.

Territoriale Entwicklung: Die Arbeit zeigt, dass sich die Chora von Selinunt über mehrere Jahrhunderte hinweg stetig ausweitete. Eine entscheidende Entwicklungsphase war das zweite Viertel des 6. Jahrhunderts v. Chr., als die Stadt Herakleia Minoa gegründet wurde. Die Siedlungsstruktur orientierte sich an geographischen Gegebenheiten, wobei indigene Siedlungen auf Hügelgipfeln oft in das griechische System integriert wurden.

Bevölkerung und ethnische Identitäten: Die Untersuchung der Bevölkerung zeigt, dass die Region sowohl von griechischen als auch von indigenen Gruppen bewohnt wurde. Während im frühen 5. Jahrhundert v. Chr. noch deutliche indigene Spuren in den archäologischen Funden zu erkennen sind, deuten spätere Funde auf eine Assimilation der indigenen Kultur in die griechische Welt hin. Auch italische und etruskische Kaufleute spielten eine Rolle in der Bevölkerung der Region.

Infrastruktur und Wirtschaftsstruktur: Leeck untersucht auch die wirtschaftlichen Grundlagen der Chora, darunter das Straßennetz, landwirtschaftliche Produktionsstätten und wirtschaftlich relevante Ressourcen wie Steinbrüche, Bodenlagerstätten sowie landwirtschaftlich genutzte Flächen. Während für die römische Zeit detaillierte Informationen über das Straßennetz vorliegen, sind die Wege und Verkehrsverbindungen der griechischen Epoche schwieriger nachzuweisen.

Im vierten Kapitel werden die gewonnenen Erkenntnisse systematisch zusammengefasst und bewertet.

Territoriale Expansion und Grenzcharakter: Leecks Analyse zeigt, dass die Expansion der Chora auf eine gezielte, langfristige Strategie zurückzuführen ist. Die Selinuntiner betrieben eine intensive Erkundung des Gebietes und sicherten ihre Grenzregionen strategisch ab, insbesondere im Zuge der karthagischen Expansion.

Akkulturation und Bevölkerungsbewegungen: Die Untersuchung zeigt, dass es keinen klar abgegrenzten Grenzraum gab, sondern dass die Grenze durch Handelsplätze (emporia) und Heiligtümer definiert wurde. Besonders bemerkenswert ist, dass die Akkulturation zwischen Griechen und Indigenen durch eine Überlagerung der materiellen Kultur nachvollzogen werden kann. Während in den neugegründeten Städten Minoa und Sciacca kaum indigene Elemente erkennbar sind, lassen sich in größeren indigenen Zentren wie Caltabellotta indigene Traditionen länger nachweisen.

Wirtschaftliche Strukturen: Die Chora von Selinunt war wirtschaftlich hochspezialisiert. Während Getreide vor allem im westlichen Teil der Chora angebaut wurde, konzentrierte sich der Osten auf Öl-, Wein- und Holzproduktion. Auch Bodenschätze wie Ton und Achat spielten eine wirtschaftliche Rolle. Der Außenhandel wurde durch mehrere Hafenstädte gesteuert, darunter Selinunt selbst, Mazare im Westen und Minoa im Osten.

Wissenschaftlicher Mehrwert

Leecks Dissertation bietet einen innovativen Beitrag zur Erforschung antiker Stadt-Land-Beziehungen. Indem sie die Chora als eigenständiges Untersuchungsfeld betrachtet, trägt sie dazu bei, die Dominanz der politischen Geschichte zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung ökonomischer und sozialer Faktoren zu relativieren. Besonders wertvoll ist die Verbindung von archäologischen, epigrafischen und literarischen Quellen, die es ermöglicht, ein vielschichtiges Bild der Chora zu zeichnen.

Ein zentrales Ergebnis der Studie ist die Erkenntnis, dass die Chora von Selinunt nicht aus zwei getrennten Zonen bestand – einer inneren, von der Stadt kontrollierten Chora und einer äußeren Einflusszone –, sondern vielmehr ein dynamischer Raum war, in dem politische, wirtschaftliche und kulturelle Prozesse flexibel gestaltet wurden. Die Arbeit gibt Anstoß für weiterführende Forschungen in anderen Regionen der griechischen Welt, insbesondere zur Frage, ob das von Leeck rekonstruierte Muster für andere Poleis repräsentativ ist oder ob Selinunt eine Ausnahme darstellt.

Dank ihrer methodischen Stringenz, ihres interdisziplinären Zugangs und der breiten Quellengrundlage stellt die Dissertation einen wertvollen Beitrag zur Altertumswissenschaft dar. Sie leistet nicht nur eine detaillierte Fallstudie zur Chora von Selinunt, sondern bietet auch neue Impulse für die Erforschung antiker Stadt-Umland-Beziehungen in der griechischen Welt.

Das Buch ist hier erhältlich - Als gebundene Ausgabe sowie als E-Book!

Das Buch "Eine Chora für die Polis" ist im Buchhandel sowie bei uns im Verlag erhältlich, als kartonierte Ausgabe (ISBN 978-3-910347-56-4), Hardcover (ISBN 978-3-910347-61-8) und als ePDF (ISBN: 978-3-910347-57-1).

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