Der Wunsch nach Rechtsstaatlichkeit erfordert eine ständige Bewusstseinsmachung - Die NS-Geschichte dient zur Mahnung

Der Wunsch nach Rechtsstaatlichkeit erfordert eine ständige Bewusstseinsmachung - Die NS-Geschichte dient zur Mahnung

Unser aller Wunsch ist es, in einem Staat zu leben, der unsere Bürgerrechte schützt und wahrt. Dass wir heute in einem Rechtsstaat leben, ist nicht selbstverständlich, sondern musste in der Geschichte erkämpft werden.

Die Willkürjustiz der NS-Zeit zeichnete sich durch Dilettantismus und Menschenverachtung aus. Wie sich das dadurch verursachte Leid anfühlte, kann der Leser des Buches „Rattenkraut im Labor“ bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Ein wichtiger Beitrag voller Empathie und eine Mahnung gegen den politischen Extremismus.

Der Autor Johannes Bollen stand für ein Interview zur Verfügung und gab uns Einblicke in seine Gedanken beim Verfassen des Buches.

Mit Ihrem neuen Buch „Rattenkraut im Labor“ rekonstruieren Sie einen historischen Fall. Worum geht es im historischen Kern genau bei Ihrem Fall?

Bücher NS-Geschichte

Es geht nicht, wie in gängigen Kriminalgeschichten, um die Frage „Wer war es?“ oder, wie in diesem Fall passender, „War er es oder war er es nicht?“. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die oldenburgische Justiz in der mittleren NS-Zeit mit einer anonymen Anzeige und einem angeblichen Giftmord im Milieu der Landarbeiter umging. Es ist aber auch die spannende Frage zu beantworten, wer den geheimnisvollen Brief schrieb, der den Fall ins Rollen brachte, und warum das geschah.

Welche persönliche Motivation hatten Sie, sich mit diesem Oldenburger Justizfall zu beschäftigen?

Der unmittelbare Anlass war die Anfrage eines älteren Herrn, der mich als Regionalhistoriker bat, ihm bei der Suche nach dem Geburtsdatum einer Verwandten behilflich zu sein. Im Gespräch erwähnte er das Gerücht, sie sei durch ein Verbrechen umgekommen. Die Nachforschungen beim Niedersächsischen Landesarchiv in Oldenburg ergaben, dass zu diesem Fall aus den Jahren 1935 bis 1937 tatsächlich noch Unterlagen erhalten waren. Als ich die sehr umfangreiche Strafakte zum ersten Mal öffnete, traute ich meinen Augen kaum – es dürfte einer der am besten dokumentierten Kriminalfälle aus der oldenburgischen NS-Zeit sein. Die Akte faszinierte mich, weil sie einen unmittelbaren und authentischen Blick in die NS-Zeit gestattet.

Hinzu kam, dass der Giftmordfall sich in der Gemeinde Lindern ereignet hat, mit deren Geschichte ich mich aus persönlichen Gründen verbunden fühle, und auch starke Bezüge zu den damaligen Landeskrankenanstalten in Wehnen hat, in deren unmittelbarer Nähe ich heute wohne.

Wie gestalteten Sie die Recherchen zum Fall?

Die wichtigste Arbeit fand zunächst im Lesesaal des Archivs statt. Die Unterlagen in der Akte waren vollkommen ungeordnet und ich musste den Ablauf der Ereignisse recht mühsam rekonstruieren. Es ergab sich vordergründig eine packende Kriminalgeschichte mit Anzeige, Verhaftung eines Verdächtigen, Exhumierung und Obduktion einer Leiche, Vernehmungen, Gegenüberstellungen, nächtlichen Verhören, Gerüchten, falschen Beschuldigungen, Geständnis, Widerruf, Fluchtversuch, irreführenden Spuren, und vielem mehr von dem, was einen Krimi spannend macht. Über den viertägigen Strafprozess fand ich in der NSDAP-Parteizeitung und weiteren gleichgeschalteten Blättern von 1937 ungewöhnlich ausführliche, wenn auch stark propagandistisch gefärbte Berichte. Es war ersichtlich, dass der Fall für die örtlichen Parteifunktionäre sehr wichtig war. Der Leiter der NSDAP-Kreispressestelle war gleichzeitig beisitzender Richter im Strafprozess und daher unmittelbar beteiligt.

Aber schnell stellte sich heraus, dass die Ereignisse ohne die Aufhellung der Hintergründe nicht verständlich waren. Der Fall berührt eine Vielzahl von Ebenen, zu denen Recherchen nötig waren – z. B. die Eingliederung der oldenburgischen Justiz in die NS-Reichsjustiz, den sogenannten „Kreuzkampf“ in Südoldenburg, die Geschichte der NS-Zwangssterilisation, weitere Mordfälle einer angeblichen „Serie“, aber auch den Alltag, das Leben und die heute kaum noch fassbare Armut der ländlichen Unterschicht in Südoldenburg. Bei Recherchen zu den beteiligten Personen wurde es besonders spannend – ich schaute in Personal- und Entnazifizierungsakten und weiteres biographisches Material, und die Figuren wurden immer realer und lebendiger. Die Enkelin des damals ermittelnden Ortspolizisten half mir mit nützlichen Details. Von ihr weiß ich z. B., dass er seine Berichte auf einer „Triumph“-Schreibmaschine schrieb,

Welche Aspekte der polizeilichen und gerichtlichen Willkür lag es Ihnen am Herzen, in Ihrem Text herauszuarbeiten?

Der zentrale Aspekt ist die verbissene Entschiedenheit, mit der die unter hohem Erfolgsdruck stehende Staatsanwaltschaft den geistig stark eingeschränkten Ehemann des mutmaßlichen Mordopfers unter allen Umständen unter das Fallbeil bringen wollte, obwohl ihm die Tat nicht zweifelsfrei nachzuweisen war – es genügte, dass sie ihm im Sinne der NS-typischen Täterjustiz „zuzutrauen“ sei. Dazu musste die Tat allerdings formal die Merkmale der Morddefinition aufweisen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die verstörende Bedenkenlosigkeit, mit der der bekannte Berliner Gerichtsmediziner Müller-Heß diese Merkmale willfährig für gegeben erklärte, z. B. durch das mündlich erstattete „kriminalpsychologische Gutachten“ über den Angeklagten, das er unter Verwendung gängiger Stereotypen von Giftmördern in kürzester Zeit „aus der Akte“ zusammenstellte. Den „Begutachteten“ hat er nachweislich erst im Prozess zum ersten Mal gesehen und vermutlich nie ein Wort mit ihm gewechselt. Bei seiner Tatrekonstruktion lässt sich außerdem die Verdrehung der Ermittlungsergebnisse des Untersuchungsrichters nachweisen, so dass er den Eindruck eines von langer Hand geplanten und mit Überlegung ausgeführten Mordes erwecken konnte.

Dass dem Gutachter vermutlich selbst bei all dem nicht ganz wohl war, zeigt die Tatsache, dass er sich später überraschend für eine Begnadigung des Verurteilten aussprach – erwartungsgemäß vergeblich.

Wie gelang es Ihnen, sich in den Gemütszustand, Charakter und die Gedanken von Anton Stienken hineinzuversetzen?

Die meisten seiner überlieferten Äußerungen findet man naturgemäß in den Vernehmungsprotokollen, aber wesentlich authentischer sind die Briefe, die er aus dem Gefängnis heraus an seine Verwandten schrieb. Sie sind nur schwer lesbar, denn das Schreiben auf Hochdeutsch bedeutete für ihn, der nur bis zur dritten Volksschulklasse gelangt war, anfangs eine geradezu übermenschliche Anstrengung. Aber zwischen den Allgemeinplätzen gelegentlich aufblitzende Sätze wie „Ein Tag ist so lang wie sonst ein Monat, und ein Monat so lang wie ein Jahr“ und sein verzweifelter Fluchtversuch zeigen, wie sehr er unter der quälenden Langeweile in Einzelhaft und der Trennung von seiner Familie litt.

Welche entscheidende Rolle kam in dem Fall schließlich der Berliner Laboranalytik zu?

Nicht umsonst schrieb der erleichterte Anklagevertreter, Staatsanwalt Grube, nach dem Prozess in einem Schreiben an Professor Müller-Heß: „Wie Sie aus den Zeitungsberichten ersehen können, war das von Ihnen erstattete Gutachten von ganz außerordentlicher Bedeutung. Es bildete die Grundlage für die Beurteilung des Falles.“ In der Tat war es faktisch nicht die Staatsanwaltschaft, die Anton Stienken unter das Fallbeil brachte, sondern der Gutachter Victor Müller-Heß. Er war die Hauptperson des ganzen Verfahrens, glänzte im Gerichtssaal mit einer eindrucksvollen Vorführung seiner Apparaturen und wurde von der Parteipresse anschließend als wissenschaftlicher Genius gepriesen.

Seine Laboruntersuchungen postulierten deutliche Arsenfunde in allen exhumierten Leichenteilen der Maria Stienken, und er schloss aus der Konzentration des Giftes, dass der Ehemann es ihr planmäßig über längere Zeit in verschiedenen Dosen verabreicht habe. Die Staatsanwaltschaft ließ das gegenteilige Ergebnis des Oldenburger Landeshygieneinstituts (LHI), das in einer Leberprobe der Maria Stienken keinerlei Arsen fand, in der Anklage völlig außer Betracht. Bemerkenswert ist, dass der offensichtlich misstrauische Untersuchungsrichter das LHI mit weiteren parallelen Untersuchungen beauftragte, die allerdings nicht mehr zustande kamen, weil die Proben während seiner Abwesenheit aus Oldenburg nach Berlin geschafft worden waren. So blieb die Analyse des Professors Müller-Heß unwidersprochen und führte zum Todesurteil.

Wie kann man sich einen Lesungstermin mit Ihnen vor Ort im Oldenburger Land vorstellen? Wann und wo wird die Premierelesung stattfinden?

Regionalgeschichte

Zum ersten Mal werde ich am 6. März 2025 ab 19 Uhr ausgewählte Passagen aus dem Buch lesen. Diese Premierelesung findet auf Einladung des Arbeitskreises Orts- und Familiengeschichte Lindern e. V. im Pfarrheim am Ort des Geschehens, in Lindern (Landkreis Cloppenburg), statt. Zur Veranschaulichung und Einordnung des Gehörten werde ich Bilder zeigen und sachliche Erläuterungen geben. Anschließend stehe ich natürlich für Fragen aus dem Publikum zur Verfügung. Alles aber wird natürlich noch nicht verraten und bleibt der Lektüre des Buches vorbehalten.

Der nächste Lesetermin ist Dienstag, der 8. April 2025. Dann werde ich das Buch ab 19 Uhr auf Einladung des Leseforums Oldenburg e.V. in Oldenburg in der Gaststätte „Mephisto“ (Artillerieweg 56) präsentieren.

Das Interview führte der Verleger, C. Leeck.
Wuppertal, im März 2025.

Das Buch ist direkt hier erhältlich – Auch als E-Book!

Das Buch "Rattenkraut im Labor" ist im Buchhandel sowie bei uns im Verlag erhältlich, als gedrucktes Buch (ISBN 978-3-910347-64-9) und als EPUB (ISBN: 978-3-910347-65-6).

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