Westeuropa vor rund 40.000 Jahren. Die junge Neandertalerin Idigi wartet vergeblich auf die Rückkehr der Männer ihrer Sippe. Hunger und Kälte zwingen sie dazu, mit den Frauen und Kindern ihres Stammes nach Süden zu ziehen – eine gefahrenvolle Reise, an deren Ende sie auf die gefürchteten modernen Menschen trifft.
Unter dem Titel "Schneesöhne" erscheint eine unterhaltsame und lehrreiche Kurzgeschichte über die Bereitschaft einer Frau, den Wandel ihrer Zeit anzunehmen. Im Gespräch mit dem Verleger erklärt die Autorin Marion Leuther, worauf es ihr ankam.
Autoreninterview mit Marion Leuther
Mit Ihrer Erzählung „Schneesöhne“ betreten Sie erstmals das historische Terrain einer weit zurückliegenden Epoche der Menschheitsgeschichte. Wie kam Ihnen die Idee zur Beschäftigung mit der Steinzeit?
Die Steinzeit hat mich schon immer fasziniert. Meine Hauptfigur, die junge Neandertalerin Idigi, war für mich sofort präsent. Ich habe mich dann intensiv mit der Zeit in Westeuropa vor ca. 40.000 Jahren befasst, in der die Erzählung spielt – und das war wirklich spannend! Lange galten Neandertaler ja als rohe, einfältige Wilde. Heute weiß man, dass sie ganz im Gegenteil intelligent waren, eine soziale Struktur besaßen und hervorragend an ihre Umgebung angepasst waren. Sie tüftelten Jagdstrategien aus, konnten Feuer entfachen und stellten Werkzeuge aus Knochen, Holz und Steinen her. Ohne ihre Fähigkeiten hätten sie sich auch niemals Hundertausende Jahre in einem derart unwirtlichen Gebiet behaupten können.
In welchen thematischen Bereichen arbeiteten Sie bisher schriftstellerisch, und worin sehen Sie den roten Faden in Ihrer Tätigkeit?
Bisher habe ich mich vor allem im Genre „Liebe“ getummelt, doch meine Interessen beim Schreiben waren von Anfang an breit gestreut: Krimi, Lyrik, Satire … Mich interessieren vor allem die Charaktere. Die Figuren müssen mich gefangen nehmen. Die Neandertalerin Idigi ist für mich eine starke, kluge Frau, die alles dafür tut, um das Überleben ihrer Sippe zu gewährleisten. Dabei verspürt sie innerliche Zweifel, erleidet schmerzhafte Verluste, kämpft gegen Angst und Unsicherheit. Sie ist also sehr menschlich, bleibt mit ihren Überlegungen und Gefühlen aber immer im Kontext ihrer Zeit.
Welche Rolle kommt der Hauptfigur Idigi und den Frauen ihrer Sippe zu, nachdem die Männer verschollen sind?
Die Frauen und Kinder sind jetzt völlig auf sich allein gestellt. Idigi weiß, dass nur der Marsch nach Süden ihnen das Leben retten kann. Es kostet sie enorme Mühe, ihre Sippe dazu zu bewegen, den vertrauten Wald, den sie ihr Leben lang kannten, zu verlassen.
Tatsächlich geht es in meiner Geschichte fast ausschließlich um Frauen: um ihren Überlebenskampf während der gefahrvollen Reise, in der sie Hunger, Kälte und Angriffe von Raubtieren erleiden. Doch diese Frauen sind wehrhaft: Sie stellen ihre eigenen Waffen her, gehen auf die Jagd und beschützen ihre Kinder.
Was ist das Besondere an der Zeit, in der Idigi lebt? Wird Idigi es schaffen, die Männer ihres Stammes lebend aufzuspüren?
Die Geschichte spielt zu einer Zeit, die für Idigi und ihre Sippe eine schwierige und bedrohliche Entwicklung nahm. Vor rund 40.000 Jahren stießen die Cro-Magnon-Menschen immer weiter in Europa vor und verdrängten die Neandertaler zunehmend aus ihrem Gebiet. So lautet jedenfalls eine der Theorien, weshalb die Neandertaler ausgestorben sind. Diese Verdrängung muss nicht zwangsläufig auf kriegerische Weise geschehen sein. Vielleicht waren die Cro-Magnon-Menschen einfach dominanter, zahlreicher und weiterentwickelter als die Neandertaler. Dennoch: beide Spezies teilten sich mehrere tausend Jahre lang denselben Lebensraum, und ihr Zusammentreffen wird nicht reibungslos verlaufen sein.
Wie wichtig ist Ihnen die Bereitschaft dieser Neandertalerin, sich an den Wandel ihrer Zeit anzupassen, also sich auf eine Begegnung mit dem modernen Homo sapiens einzulassen?
Die Begegnung der Neandertalerinnen mit den Cro-Magnon-Menschen ist ein wichtiger Wendepunkt. Idigi muss eine schwere Entscheidung treffen: weiterziehen oder sich dem Stamm der modernen Menschen stellen. Beides kann für sie und ihre Sippe den Tod bedeuten. Doch letztlich bleibt ihr keine Wahl. Indem sich Idigi auf die Cro-Magnon-Menschen einlässt, akzeptiert sie, dass sich ihre gewohnte Welt grundlegend verändert hat – und sie sich an die neuen Lebensbedingungen anpassen muss, um zu überleben.
Das Interview führte Christian Leeck.
Wuppertal, im Januar 2024.